D. Skrabania u.a. (Hrsg.): Die Volksabstimmung in Oberschlesien 1921

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Titel
Die Volksabstimmung in Oberschlesien 1921. Nationale Selbstbestimmung oder geopolitisches Machtspiel?


Herausgeber
Skrabania, David; Rosenbaum, Sebastian
Erschienen
Paderborn 2023: Brill / Schöningh
Anzahl Seiten
XXIV, 583 S.
Preis
€ 99,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Matthäus Wehowski, Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung, Technische Universität Dresden

2021 jährte sich zum 100. Mal die Volksabstimmung in Oberschlesien vom 20. März 1921. Sie war ein Schlüsselmoment der Demokratiegeschichte nach dem Ersten Weltkrieg, da erstmals in größerem Umfang versucht wurde, territoriale Streitigkeiten durch eine demokratische Abstimmung zu lösen. Allerdings stellte das Ergebnis der Abstimmung keine der beiden Seiten zufrieden. Der Streit um die Deutung der Volksabstimmung überschattete die folgenden Jahrzehnte der deutsch-polnischen Beziehungen.

David Skrabania und Sebastian Rosenbaum, die beiden Herausgeber dieses Bandes, der im Rahmen einer deutsch-polnischen Tagung zum 100. Jahrestag im Haus Oberschlesien in Ratingen entstanden ist, beklagen in ihrer Einleitung zu Recht, dass es um die Erinnerung an dieses Ereignis nicht gut bestellt ist. Während sie in Polen nach wie vor stark von nationalen Mythen geprägt ist, ist der Konflikt um die Abstimmung aus der öffentlichen Wahrnehmung in Deutschland fast völlig verschwunden. Ziel des Bandes ist es daher nicht nur, dem Referendum den ihm gebührenden Platz in der neueren Geschichte Mitteleuropas zu verschaffen, sondern vor allem, die polnische und deutsche Forschung zusammenzuführen. Tatsächlich gelingt es den Herausgebern, viele der wichtigsten Forscher:innen zur Region in diesem Band zusammenzubringen und dabei die Grenzen der nationalen Perspektiven zu durchbrechen. So kommen nicht nur deutsche und polnische, sondern auch englische, tschechische, ungarische und österreichische Expert:innen zu Wort.

Der Band beginnt mit mehreren Beiträgen zum Forschungsstand und zur Erinnerungskultur des Referendums. Dabei räumt er mit einigen gängigen Mythen auf, die sich vor allem in polnischen Narrativen verfestigt haben – etwa der Annahme, der deutsche Abstimmungssieg sei entscheidend auf den Einfluss der in Deutschland lebenden, aber aus Oberschlesien stammenden „Outvoter“ zurückzuführen gewesen. Dass dem nicht so war, zeigen die Beiträge von Ryszard Kaczmarek und Andrzej Michalczyk eindrucksvoll anhand einer detaillierten Analyse der statistischen Daten. David Skrabania wiederum dekonstruiert die Mythen, die den Nachkriegsdiskurs in der Bundesrepublik geprägt haben. So rechtfertigten vor allem die Vertriebenenverbände die Rolle von Gewaltakteuren wie den Freikorps und schrieben den Mythos vom deutschen „Kulturträger“ fort.

Dass die Beschäftigung mit Oberschlesien keineswegs nur Regionalgeschichte ist, zeigen die Beiträge zur französischen, britischen, italienischen und sogar zur vatikanischen Perspektive auf die Volksabstimmung. Damit wird der Band seinem Titel gerecht, die geopolitischen Aspekte der Volksabstimmung zu untersuchen. Dass die jeweiligen Staaten, die eine „neutrale“ Abstimmung garantieren sollten, zugleich eigene politische Ziele verfolgten, wird ausführlich dargestellt: So sicherte sich Italien privilegierte Handelsbeziehungen mit Polen und hatte daher ein Interesse daran, dass wichtige Teile des oberschlesischen Industriereviers unter Warschauer Kontrolle kamen. Großbritannien wiederum hatte das Mächtegleichgewicht auf dem Kontinent im Blick und stand daher den deutschen Ansprüchen nicht so ablehnend gegenüber wie die Franzosen. Darüber hinaus ordnet Jörn Leonhard den oberschlesischen Abstimmungskampf in den globalen Kontext der Ansprüche auf Selbstbestimmung ein.

Jeder Beitrag bietet eine wichtige Perspektive auf die globalen, nationalen und auch regionalen Einflüsse und Besonderheiten der Volksabstimmung in Oberschlesien. Da es im Rahmen dieser Rezension nicht möglich ist, auf jeden einzelnen Beitrag einzugehen, sollen einige Highlights hervorgehoben werden (was die Qualität der übrigen Beiträge nicht schmälert). Zu diesen gehört zweifellos Lutz Budrass’ quellengesättigte und detailreiche Regionalstudie zum Abstimmungskampf in Bottrop, wo aus Oberschlesien stammende, mehrheitlich polnischsprachige Zuwanderer zur Stimmabgabe aufgerufen waren. Diese bietet über das Thema hinaus auch wichtige Impulse für die Themen (Arbeits-)Migration, Sozialisation von Migrant:innen und kommunale Selbstverwaltung. Auch die komplexen Fragen der Identitätsformation zwischen Herkunftsregion, sozialem Milieu und den sich neu formierenden Nationalstaaten Polen und Tschechoslowakei geraten hier exemplarisch in den Blick. Ebenso aufschlussreiche Einsichten liefert der Beitrag von Sascha Hinkel über die Positionierung des Vatikans. Dieser bemühte sich zwar um Unparteilichkeit, ließ sich letzten Endes aber von seiner (kirchen-)politischen Agenda leiten. Oberschlesien mit seinem hohen katholischen Bevölkerungsanteil war eine Hochburg des Katholizismus in Deutschland, weshalb sich der Vatikan für den Verbleib beim Reich einsetzte. Hinkels Beitrag stützt sich auf Quellen aus den Vatikanischen Archiven, die in der Forschung zur Region sonst kaum berücksichtigt werden.

Der Beitrag von Piotr Pałys schildert den Abstimmungskampf aus der Perspektive des tschechoslowakischen Konsuls Jiljí Pořízek und beleuchtet damit einen bislang vernachlässigten Blick auf die Region. Denn auch die Tschechen konstruierten über Sprache, Geschichte und Kultur Ansprüche auf Teile Oberschlesiens. Um tschechoslowakische Ansprüche geht es auch im Beitrag von Jiří Neminář über das „Hultschiner Ländchen“, eine Grenzregion, die von der deutschen, polnischen und tschechoslowakischen Nationalbewegung gleichermaßen beansprucht wurde. Neminář zeigt an diesem Beispiel, wie rein wirtschaftliche Interessen, vor allem an Infrastruktur und Kohlerevieren, die Konstruktion nationaler Narrative bestimmten. Politiker wie der Leiter der tschechoslowakischen Delegation in Paris, Karel Kramář, griffen sogar auf die mittelalterliche Geschichte zurück, um Ansprüche auf einzelne Landstriche, Dörfer oder Regionen zu begründen. Damit zeigt dieser Beitrag eindrucksvoll, wie Geschichte, „Ethnizität“ und Sprache als Instrumente territorialer Ansprüche eingesetzt wurden – eine Analyse, die angesichts der russischen Invasion der Ukraine erschreckend aktuell erscheint. Allerdings tauchen in diesem, ansonsten hervorragend recherchierten, Text einige Fragezeichen auf. So wird Josef Koždoň, der Vorsitzende der „Schlesischen Volkspartei“, missverständlich als (möglicher) Vertreter einer oberschlesischen Delegation bezeichnet (S. 449), obwohl die Aktivitäten seiner Partei eindeutig im ehemals österreichischen Teil Schlesiens, also im Teschener Gebiet, lagen. Hier wären einige klärende Einordnungen notwendig gewesen.

Ein kleines Manko des gesamten Bandes ist ohnehin, dass die oberschlesischen Autonomisten unter Ewald Latacz und den Brüdern Reginek („Bund der Oberschlesier“) zwar in einigen Texten erwähnt, aber nicht eingehender behandelt werden. Hier wäre ein eigener Beitrag durchaus angebracht gewesen, der die Ideen einer schlesischen Autonomie – auch mit einer möglichen Vereinigung mit dem Teschener Schlesien – näher erläutert hätte.

Abgesehen von diesen kleineren Mängeln bietet der von David Skrabania und Sebastian Rosenbaum herausgegebene Band eine hervorragende Synthese der bisherigen Forschung zur Volksabstimmung in Oberschlesien. Er führt nicht nur die polnisch-deutsche Forschung zusammen, sondern berücksichtigt auch die Perspektiven der internationalen Forschung. Darüber hinaus vertiefen einzelne Beiträge bisher vernachlässigte internationale, nationale und regionale Aspekte des Abstimmungskampfes. Insgesamt eine empfehlenswerte Lektüre.